Konfessionsfreier Seelsorger, ehemaliger Benediktinermönch (1959-2015) und Priester
Jesus heute
Unvollendetes Papier Stand September 2016
Heilige Schrift - wenn diese Bezeichnung im Raum des christlichen Glaubens einen Sinn hat, dann diesen: dass hier Gott selbst, sein lebendiges Wort, seine Selbstmitteilung, sich manifestiert und ausspricht in dem, was Menschen geschrieben haben.
Muss heilige Schrift in diesem Sinne mit den kanonischen Schriften der Bibel, mit dem Alten und Neuen Testament, ein Ende haben? Heilige Schrift im christlichen Sinn ist kein Diktat, ist nicht ein Text, den ein "Medium" unter dem wortwörtlichen Diktat eines geistigen Wesens aufgezeichnet hat. Die Texte der Heiligen Schrift haben ihren "Sitz" im Leben der Menschen, im aktuellen Miteinander des Schreibenden mit den Menschen um ihn. Es sind keine Traktate, die ein Thema behandeln. Sie entspringen - in der einen oder anderen Weise - der Begegnung von Mensch zu Mensch und reagieren darauf. Sie gehören in den Zusammenhang solcher Begegnung und sind ein Teil davon. "Heilige Schrift" werden solche Texte, weil die Menschen, die sie schrieben, von der Gewissheit getragen waren: In jenen Begegnungen sind die Beteiligten nicht nur einander, sondern Gott begegnet.
Wenn irgendwo, dann trifft dies in besonderer Weise auf die Evangelien zu. Jesus trug nicht ein Schild um den Hals, auf dem geschrieben stand, dass er der Sohn Gottes sei, "Gott von Gott, Licht vom Licht, wahrer Gott vom wahren Gott", wie das Konzil von Chalkedon es über vier Jahrhunderte später definiert. Die Menschen erlebten ihn in der Begegnung etikettenlos als einen Menschen. Und in den Texten der Evangelien kommt zum Ausdruck, wie sie ihn erlebt haben. Sie bezeugen, so oder so, ihr Berührtsein, ihr einzigartiges Betroffensein. Da war etwas, was den normalen Gang menschlicher Ereignisse durchbrach. In ihnen erwachte die Überzeugung: in der Begegnung mit Jesus, mit diesem Menschen, begegneten sie Gott. Und das war es, ihrer Überzeugung nach, dann auch wert, erzählt und bezeugt zu werden.
So werden Geschichten - erzählt, erinnert, weitererzählt, schliesslich aufgeschrieben, gelesen, gehört, auslegt - zum Medium dessen, was Menschen um Jesus erlebt haben. Sie teilen in solchen Texten nicht nur die Überzeugung mit, zu der sie gelangt waren, - sie teilen mit, WIE sie zu dieser Überzeugung gelangt sind. Für die Menschen, denen ein solcher Text die Teilhabe an der geschilderten Erfahrung erschließt, wird er zur "Heiligen Schrift". Denn auch sie erfahren in der Begegnung, in die dieser Text sie einbezieht, etwas Tieferes als menschliches Miteinander: die Begegnung mit Jesus, an der sie durch diesen Text teilhaben, wird auch für sie zur Begegnung mit Gott.
Aber nicht nur aus der unmittelbaren Begegnung mit Jesus entstanden solche Texte. "Heilige Schrift" gab es für die Juden ja schon lange zuvor - die Schriften des Mose, die der Propheten, die Psalmen - ; auch Jesus selbst sah in ihnen das Wort des lebendigen Gottes. Und für die Jünger Jesu brachen die Begegnungen, in denen sie mit ihm und mit Gott selbst in Berührung kamen, nach dem Tod Jesu ja nicht ab. Dass der Gekreuzigte ihnen als der Lebende nahe blieb, dass sie seine Gegenwart in ihren Begegnungen miteinander erfuhren, wurde vielmehr zur Mitte ihres Glaubens. Da entstanden Texte, in denen es genau darum ging: in der Begegnung miteinander dem Auferstandenen zu begegnen und dem Gott, der sich nach wie vor durch ihn mitteilte und offenbarte. Auch diese Texte - die Apostelgeschichte, die Briefe des Paulus und anderer Apostel, die Geheime Offenbarung - wurden gesammelt und weitergegeben bis heute als "Heilige Schrift".
Und seitdem - und heute? Haben wir nur die "Heilige Schrift", wie sie in den ersten Jahrhunderten der Kirche als "Kanon" zusammengefasst wurde? Sicher ist es ein unverzichtbares Bedürfnis, den Schriften aus der Zeit der Grundlegung und des Anfangs die Bedeutung eines Maßstabes für alle nachfolgenden Zeiten zuzusprechen. Darin liegt und äußert sich jedoch eine große Gefahr: es bei diesem Anfang zu belassen, ihn als nicht hinterfragbare Grundlage des eigenen Glaubens und Lebens zu betrachten und nur noch auf diesem Felsenfundament weiterzubauen. So werden die Texte selbst, ihre Inhalte, nicht die lebendige Begegnung, denen sie entsprangen und an der sie ursprünglich Anteil geben wollten, zum Ausgangspunkt des religiösen Lebens, und die Frage ihrer rechtgläubigen Auslegung rückt in seinen Mittelpunkt.
Jesus selbst wird so zum Gegenstand kirchlicher Bekenntnisse und Dogmen. Begegnung mit ihm - es mag sie immer noch geben, aber sie gehört in den Raum persönlicher Frömmigkeit und hat für die Kirche, für ihr Selbstverständnis und ihre institutionelle Gestalt keinerlei Bedeutung. Es entsteht auf dieser Grundlage das Christentum nicht nur als eine sich selbst definierende religiöse Macht; es wird zu einer das Ganze der Gesellschaft prägenden Macht, die sich mit allen Mitteln gesellschaftlicher, politischer und kultureller Machtausübung durchsetzt und über die Jahrhunderte behauptet.
Diese Zeit des Christentums ist vorbei. Die Gesellschaft hat sich von der Kirche emanzipiert. Religiöse Aussagen und Ausdrucksformen, die ihre Erfahrungsgrundlage nicht erschließen, sondern einfach in kanonisierter und unhinterfragbarer Weise voraussetzen, bleiben den Menschen verschlossen. Soweit sie noch in einer der Kirchen aufgewachsen sind, distanzieren sie sich innerlich oder wandern ab. Versuche innerhalb der Kirche, durch Umstrukturierungen, Reinterpretationen, Reaktivierungen, charismatische Neuansätze den Anschluss an die Zeit zu gewinnen, münden in Sackgassen. Es ist, als sei ein fast zwei Jahrtausende alter Baum bis in seine Wurzeln verdorrt und harre nur auf den Zeitpunkt, an dem er endgültig zu Boden stürzt.
Soll hier noch einmal neues Leben aufkeimen, muss man wohl ganz an den ersten Anfang zurückgehen. Denn möglicherweise war der heute zu beobachtende Sterbeprozess bereits im ersten Anfang angelegt. Die ersten Gemeinden gründeten ihren Glauben auf das Zeugnis der Apostel. Diese verstanden sich als die Zeugen, die mit eigenen Augen gesehen, mit ihren Ohren gehört, mit Händen berührt hatten, was sie bezeugten. Ihre auf eigener Erfahrung gründende Zeugenschaft wurde so zum unhinterfragbaren Fundament, auf dem die Kirche gründete. Jesus, gekommen als Bote und Künder des Reiches Gottes, wurde im Zeugnis der Apostel als der Auferstandene zum Gegenstand der Verkündigung. Ohne an der Erfahrung, auf der dieses Zeugnis beruhte, Anteil zu haben, übernahm die Gemeinde es im Bekenntnis zu Jesus als Christus, als Kyrios und Herr, als dem Gott gleichen Sohn Gottes. Nur wer dieses Bekenntnis übernahm, gehörte der Gemeinde an. Offenkundig sind bereits in diesen apostolischen Anfängen der Kirche die Weichen gestellt für eine Entwicklung, die in unserer Zeit an ihr Ende gekommen ist.
Man könnte die Kirche diesem Sterbeprozess überlassen und sich der Wirklichkeit des heutigen Lebens zuwenden; und viele tun genau dies. Die Frage ist jedoch: Stirbt mit der Kirche auch Jesus selbst endgültig - oder stirbt damit nur das auf dem apostolischen Zeugnis, also auf der Erfahrung anderer gründende kirchliche Bekenntnis zu ihm? Stirbt Jesus als der Lebende für diese Welt, oder stirbt er nur in seiner apostolisch-kirchlichen, in Zeugnis, Bekenntnis, Ritus und Dogma objektivierten Form?
Für mich stellt sich diese Frage in einer persönlichen, biographischen Form: was bleibt mir von Jesus, nachdem ich aus der römisch-katholischen Kirche ausgetreten bin? Nachdem ich mich also nicht mehr in dem von ihr definierten Rechtsbereich befinde, in dem dogmatisch vorgegeben und festgelegt ist, was ich von Jesus zu denken habe? Was bleibt nach einem Leben als Mönch in einer benediktinischen Gemeinschaft durch 56 Jahre, als Priester seit meiner Weihe im Jahre 1964? Was habe ich zurückgelassen, was nehme ich mit?
Kontinuität
Der Umbruch, wenn nicht sogar Zusammenbruch der Kirche fand schon längst Platz in seinen Predigten, auch die Zuversicht in Gottes Wort danach.
Predigten
Lesejahr A
17. Jahressonntag - Mt 13,44-52
- Predigt 2005
- Predigt 2008: Beide, - Ordensgemeinschaften und Pfarrgemeinden befinden sich heute in der Krise. In der einen oder anderen Form werden sie sich wandeln müssen, - wir wissen noch nicht, wie. Aber die beiden Weisen, wie Gottes Wort bei den Menschen ankommt, werden auch in der Zukunft wirksam bleiben.
20. Jahressonntag - Mt 15,21
- Predigt 2011: Wo finden wir den Glauben der kanaanäischen Frau oder den dieses römischen Hauptmanns in unseren Tagen? Da müssen wir wohl an die heutigen Heiden denken, an die unübersehbar Vielen, die der Kirche entfremdet sind, denen sie so, wie sie in den Jahrhunderten gewachsen ist, keine Antwort mehr gibt auf ihre Nöte und Bedrängnisse, auf die Hoffnung und Sehnsucht ihres Herzens. Deren Fragen bei dieser Kirche auf ein taubes Ohr fallen, auf starre und abweisende dogmatische Lehrsätze, auf die bornierte und verletzende Geringschätzung Andersdenkender.
Könnte es nicht sein, dass die eigentliche Zukunft der Kirche nicht da aufbricht, wo sie ängstlich um ihren Bestand und ihre Zukunft ringt, wo die bischöflichen Generalvikariate sich um maßgeschneiderte Strukturpläne für die Pfarreien und Dekanate bemühen oder die Bischöfe einen bundesweiten innerkirchlichen Gesprächsprozess anstoßen, schon gar nicht da, wo Traditionalisten die vorkonziliare Kirche wieder herbeizureden suchen? Dass vielmehr heute ähnliches geschieht wie in der Begegnung Jesu mit der kanaanäischen Frau - und Außenstehende sich ganz von sich aus, neu und ungeplant, der Botschaft des Evangeliums öffnen?